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Bildcollage mit Portraitbildern und Lebensraum-Logo.

Mai 2024: Archäologische Untersuchungen auf dem Gelände der HERBERGEplus.

Bevor in die Höhe gebaut wird, muss es erst einmal in die Tiefe gehen. Bei den Vorbereitungen für die Gründungsarbeiten haben archäologische Untersuchungen auf dem rückwärtigen Gelände der HERBERGEplus. stattgefunden. Dort, wo in rund 1,5  Jahren ein neues Wohngebäude stehen wird, wurden zwei rund 150 Jahre alte Gebäudeteile gefunden.

Seit wenigen Tagen finden im Vorfeld des geplanten Neubaus auf dem ehemaligen Gelände der Kettenstrafanstalt von Lüneburg archäologische Ausgrabungen statt. Hierbei gelingen spannende Einblicke in die zugegeben etwas makabre Geschichte des Lüneburger Strafvollzugs. Erkennbar sind Baustrukturen aus dem letzten Drittel des 19. Jhs., die Hinweise auf das alltägliche Leben und die Versorgung der mutmaßlich schlimmsten Verbrecher aus dem damaligen Königreich Hannover gewähren.

Die ersten Gebäude der Kettenstrafanstalt von Lüneburg wurden in den Jahren 1837–1841 am Fuß des Kalkbergs errichtet. In diesem Bereich befand sich bereits seit dem 18. Jh. das als “Stockhaus“ bezeichnete Gefängnis von Lüneburg. Während das ältere Gefängnis lediglich über zwei Gemeinschaftszellen verfügte, war in der neuen Kettenstrafanstalt auch die Unterbringung in Einzelzellen möglich. Bei den Sträflingen handelte es sich seit dem Erlass des Hannoverschen Strafgesetzbuches vom 08.08.1840 ausschließlich um Männer, die eine Strafe von über 6 Jahren abzubüßen hatten. Der Name Kettenstrafanstalt ist in diesem Zusammenhang durchaus wörtlich zu verstehen, da die Menschen, die hier gefangen gehalten wurden, in eiserne Ketten gelegt wurden. Die in Ketten gelegten Männer wurden überdies zu Zwangsarbeiten auf dem Kalkberg verpflichtet. Auf dem Kalkberg – der eigentlich aus Gips besteht – mussten dann Gipsbrocken mit Muskelkraft zerkleinert werden. Nach dem Steineklopfen wurden der Gips zu großen Haufen aufgeschichtet und zu Gipsmörtel gebrannt.

Obwohl die beschriebenen Arbeitsbedingungen der Kettensträflinge aus heutiger Sicht erbarmungslos anmuten, war das Ziel des damaligen Strafvollzugs neben dem ordnungsgemäßen Ablauf der jeweiligen Strafe durchaus auch die Verbesserung des Lebenswandels der Insassen. So sollten diese durch die Erweckung des religiös-moralischen Sinnes, durch ein streng geregeltes Leben, Gehorsam gegen die Hausgesetze, eine peinliche Ordnung, unausgesetzte Tätigkeiten und größtmögliche Reinheit auf den rechten Weg zurückgeführt werden.

In einem ähnlichen Zusammenhang könnte man die nun archäologisch dokumentierten Gebäudestrukturen verstehen. Es handelt sich um ein mindestens zweiräumiges Gebäude aus Backstein, in dessen Mitte mehrere Metallrohre in das Mauerwerk eingelassen sind. Diese Metallrohre führen in einen Keller und sind hier über mehrere Nischen – also ausgemauerte Lücken im Mauerwerk – zu erreichen. Es ist wahrscheinlich, dass vor den unten abgebrochenen Metallrohren ehemals Heizeinrichtungen platziert waren. Wir wissen aus schriftlichen Quellen, dass der ältere Teil der Lüneburger Kettenstrafanstalt bereits über eine aufwendige Heißluftheizung verfügte. Ähnliches ist nun auch für das neu entdeckte Gebäude anzunehmen. Offenbar hat man im Keller des archäologisch dokumentierten Gebäudes die Luft erhitzt und dann über ein Rohrleitungssystem in den jüngeren, seit 1877 entstandenen Bau der Kettenstrafanstalt geführt. So waren die Kettensträflinge des 19. Jhs. zwar zum Tragen einer Fußkette verpflichtet und mussten noch immer harte körperliche Arbeiten auf dem Kalkberg verrichten, ihnen wurden jedoch immerhin eine für die damalige Zeit hochmoderne Heizmöglichkeiten zur Verfügung gestellt.

Das Ende der Heißluftheizung ist schließlich vor dem Jahr 1910 zu suchen. Während die letzten Gefangenen erst 1921 nach Celle überführt wurden, ist auf einem dankenswerterweise von Hans-Joachim Boldt zur Verfügung gestellten Foto von 1910 erkennbar, dass das Gebäude zu dieser Zeit bereits abgebrochen war. Die schlussendliche Verfüllung des rezent eingeschlagenen Kellergewölbes geschah dann erst in noch späterer Zeit. Von diesem Vorgang legen zahlreiche Funde ein beredtes Zeugnis ab. Etwa eine Bierflasche der St. Pauli-Bavaria-Brauerei (zwischen 1920 und 1932 produziert), die nachträglich zum Ansetzen von Rhabarberschnaps zweckentfremdet wurde, hat für besondere Erheiterung im Grabungsteam gesorgt.

Mit den vorliegenden Befunden und Funden konnten somit zahlreiche Informationen zum vergangenen Leben in der Lüneburger Kettenstrafanstalt gesammelt werden.

Tobias Schoo, Stadtarchäologe